Führung ist niemals Selbstzweck – Ein Interview mit Dr. Hans Rudi Fischer

Servant Leader sehen sich als Unterstützer und Diener ihres Teams. Über die Idee dahinter und das heute herrschende Führungsverständnis sprach die ESV-Redaktion mit dem Geschäftsführer des Zentrums für systemische Forschung und Beratung, Dr. Hans Rudi Fischer.

Herr Dr. Fischer, woher stammt die Idee der Servant Leadership?

Hans Rudi Fischer: Die Idee bzw. das entfaltete Konzept stammt von dem erfolgreichen amerikanischen Manager Robert Greenleaf, der in Hermann Hesses Erzählung „Die Morgenlandfahrt” von 1932 ein Erweckungserlebnis hatte, das ihn seine eigene Karriere mit andern Augen sehen ließ. In Hesses Parabel ist es ein Diener, der mit unsichtbarer Hand eine Reisegesellschaft führt und dessen Abwesenheit die Gemeinschaft in existenzielle Nöte stürzt und ihnen bewusst macht, wie notwendig der Diener ist und war. Vor diesem Hintergrund entwickelte Greenleaf seine Vorstellung von „Servant Leadership”.

Können Sie uns kurz erklären, was genau Servant Leadership bedeutet?

Hans Rudi Fischer: Die Vorstellung fußt auf der Erfahrung, dass Bescheidenheit, persönlicher Mut sowie Versöhnlichkeit und Verantwortung die Grundlagen nachhaltigen Führungserfolges darstellen. Gute Führung muss sich jenseits individuell zurechenbaren Erfolges immer auch daran messen lassen, ob sie langfristig der Organisation und den Beteiligten dient. Der Gegensatz zwischen individuellen Interessen und den Interessen der Organisation wird dabei aufgehoben. Es muss im Interesse der einzelnen Führungskraft sein, den Interessen der Organisation zu dienen. Führung ist daher niemals Selbstzweck, Führen ist immer ein „um zu…” und funktional zu verstehen, sie hat einem größeren Ganzen, der Organisation, der Gesellschaft und dem Gemeinwohl zu dienen.

Sind Führungskräfte, die sich selbst als Diener Ihres Teams sehen, in der heutigen Zeit nicht eher vom Aussterben bedroht?

Hans Rudi Fischer: Wenn Sie „Diener” im wörtlichen Sinne verstehen, hätten Sie völlig Recht und solche Führungskräfte wären zum Aussterben verurteilt! Hier führt uns unser bipolares Denken in die Irre, weil die Dialektik zwischen Dienen und Führen im Begriff „Dienende Führung” nicht zum Ausdruck kommt. Dienen braucht Führung und Führung braucht Dienen! Es geht nicht um Entweder-oder, sondern um Sowohl-als-auch, das heißt um Maß und Mitte zwischen Führen und Dienen. 

„Wir müssen einen Paradigmenwechsel im Führungsverständnis einleiten”

Ist nach alledem in vielen Unternehmen ein verändertes Führungsverständnis notwendig?

Hans Rudi Fischer: Angesichts der bitteren Lehren, die wir aus der Finanzkrise ziehen müssen, dem immer noch schwelenden „Dieselgate” sowie den historischen und aktuellen Korruptions- und Compliance-Fällen könnte man glauben, dass Gier das untilgbare, systemimmanente Treibmittel egomanischer Führung ist. Daher müssen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wichtig und essentiell es für unsere soziale Marktwirtschaft – das heißt unsere Gesellschaft – ist, einen Paradigmenwechsel im Führungsverständnis einzuleiten. Die Sorge und die Verantwortung der Führungskräfte für die Organisation, die Gemeinschaft, das Gemeinwohl muss wieder in den Vordergrund treten. Das ist im wörtlichen Sinne notwendig, weil es die Not wendet, dass unser gesellschaftliches System sozialer Marktwirtschaft vor dem Abgrund steht.

Ist Servant Leadership nur ein Modell für Unternehmen bestimmter Größe oder vom Kleinbetrieb bis zum Dax-Konzern umsetzbar?

Hans Rudi Fischer: Das Konzept ist in Kleinbetrieben oder mittelständischen Unternehmen sicher leichter einzuführen und als gelebte Führungskultur zu praktizieren als in großen Konzernen, die von der Logik der Quartalszahlen und dem „shareholder value” – der von seinem Begründer ursprünglich auf Nachhaltigkeit angelegt war! – Dogma  beherrscht werden. Mittelständische Unternehmen sind in der Regel von Familienunternehmen geprägt. Zur systemimmanenten Logik von Familien und damit von Familienunternehmen gehört ein Kerngedanke von Servant Leadership, nämlich der der Nachhaltigkeit, der einen weiteren Zeithorizont und ein überindividuelles Ganzes impliziert.

„Servant Leadership wird in vielen Familienunternehmen schon lange gelebt”

Nur die nächsten Generation kann den Fortbestand des Systems Familie, zu dem der Einzelne gehört, garantieren. Daher gibt es ein großes Interesse am Wohlergehen der nächsten Generation. Das heißt, die Sorge um das Überleben der Organisation Familie, die Sorge um das Unternehmen, steht nicht im Widerspruch zur Selbstsorge, sondern gehört zur Sorge um das Eigene dazu. Daher ist das Konzept Servant Leadership Familienunternehmen „natürlich” näher und wird auch in vielen Familienunternehmen schon lange gelebt. Aber auch in Großkonzernen gibt es inzwischen Versuche – Forschung dazu gibt es bereits – eine Kultur dienender Führung zu etablieren, gleichwohl sind die Hindernisse zu einem solchen Mentalitätswandel aus besagten Gründen relativ groß.

Wird die Umsetzung von Servant Leadership durch die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen, also Corporate Social Responsibility (CSR), zusätzlich begünstigt?

Hans Rudi Fischer: Das sollte man meinen, leider steht CSR meist nur auf dem Papier. Im Zweifelsfalle, in Konfliktsituation zeigt sich, dass eben doch nur der kurzfristige Profit zählt – ohne Rücksicht auf die Existenzgefährdung der gesamten Organisation – und nicht die Verantwortung der „Leader” für das Unternehmen und deren Mitarbeiter. Siehe VW und wie die Verantwortlichen seit Jahren versuchen, sich der Verantwortung zu entziehen und die begleitende Appeasement-Politik der Regierung. Wer fragt nach den gesellschaftlichen Folgen dieser Politik? Liest man den Governance Codex von VW und die dort deklarierte CSR, wird einem klar, das ist alles rhetorischer Schein. Wenn mit CSR Ernst gemacht wird, dann ist das gut anschlussfähig an das Servant-Leadership-Konzept, das wir entwickeln.

„Servant Leadership kann Orientierungshilfe bieten”

Auch der technologische Wandel stellt Organisationen vor eine große Herausforderung. Sind vor diesem Hintergrund „dienende Manager” erfolgreicher?

Hans Rudi Fischer: Das lässt sich so nicht sagen, auch Servant Leadership kann kein Allheilmittel sein. Aber es kann in dieser unruhigen Zeit, in der viel im Fluss ist, Orientierung bieten, an welchen Kriterien und Werten die verantwortungsvolle Führungskraft den persönlichen und organisationalen Erfolg messen kann und will. Servant Leadership kann ein Navigationsinstrument sein, das eigene Maß und die eigene Mitte in einer Zeit zu finden, die aus den Fugen geraten zu sein scheint.

www.esv.info