In meinen vorigen Beiträgen habe ich dargestellt, was hinter dem Konzept „Servant Leadership“ steckt und was konkret einen „dienenden“ Vorgesetzten ausmacht. Dabei ist – hoffentlich – klar geworden, warum Mitarbeiter sich von diesem Führungstypus besser motivieren lassen als von jedem anderen. Und damit ist auch die grundsätzliche Relevanz dieses Ansatzes für die Führung von Organisationen verdeutlicht: Motivierte Angestellte sind unterm Strich produktiver für ein Unternehmen.
Nun sind ja die ersten Ideen dazu bereits in den 1970er Jahren von Robert K. Greenleaf, einem langjährigen Personalmanager bei AT & T, entwickelt worden – warum erfahren sie gerade in jüngster Zeit größere Aufmerksamkeit? Erster Grund: Heutzutage, da flache Hierarchien, Agilität und echte Teamarbeit immer verbreiteter sind, akzeptieren kaum noch Menschen Chefs mit autoritärem Habitus; schon gar nicht werden sie mit Leidenschaft für sie arbeiten. Im ersten Blogbeitrag zum Thema habe ich das Gedankenexperiment entworfen, dass wir alle uns unseren Chef selbst wählen könnten. Nur eine aberwitzige Vorstellung? Denken Sie an die Berliner Philharmoniker, die ihren „Chef“ – dem sie dann folgen werden – selber wählen. Und da ist die Macht des Faktischen: Tatsächlich entwickelt sich der Arbeitsmarkt in großen Teilen so, dass sich mehr und mehr qualifizierte Arbeitnehmer ihre Arbeitgeber aussuchen können. Welcher Typus dabei wohl am besten motivierte Mitarbeiter für sich gewinnen kann, wird klar, wenn wir die Frage beantworten, für wen wir selbst am liebsten arbeiten. Bei den meisten wird die Antwort lauten: für einen Chef, der seine persönlichen Interessen hinter die der Organisation und ihrer Mitarbeiter stellt und sie bei Gegenwind in Schutz nimmt. Also für einen Chef, der nicht in erster Linie über andere Menschen bestimmen will und Eigeninteressen verfolgt, sondern – ganz im Gegenteil – der vor allem seinen Mitmenschen und dem „großen Ganzen“ dienen will. So einem folgen wir gerne.
Zweiter Grund, warum Servant Leadership heutzutage angesagter ist denn je: Die sogenannte Generation Y, die relativ sorgenfrei und gut versorgt aufgewachsen ist, sucht selbst stärker nach Sinn – im Privaten wie im Beruf. Das hat zur Folge, dass immer weniger Berufsanfänger nach Geld, Macht, Bedeutung streben. Und sie sind auch weniger gewillt, autoritäre Vorgesetzte oder eine auf Druck basierende Arbeitsatmosphäre zu akzeptieren. Stattdessen erwarten sie sinnvolle Aufgaben und Chefs, die Sinn vermitteln können: also ihre Angestellten nicht sinnentleert abarbeiten lassen und direktiv kommandieren, sondern mit ihnen „auf Augenhöhe“ kommunizieren, sie fördern und eine Menschen zugewandte, produktive Arbeitsatmosphäre schaffen, in der Teamgeist und ein winning spirit gelebt wird. Kurz: Anhänger der Generation Y legen großen Wert auf die Haltung und die Charakterausprägungen eines Servant Leaders.
Besonders relevant ist Servant Leadership für mittelständische Familienunternehmen – und für sie ist es in besonderer Weise geeignet. Nicht nur wegen flacher Hierarchien und kurzer Entscheidungswege, sondern auch weil sie ihre Ziele grundlegend anders priorisieren als börsennotierte Kapitalgesellschaften. Bei vielen Großkonzernen gilt die Reihenfolge: 1. Wachstum, 2. Rentabilität und am Ende erst Stabilität. In Familienunternehmen dagegen ist es zumeist andersherum: Hier wird stabilen Verhältnissen oft größerer Wert beigemessen als Wachstum um jeden Preis – und hier wird nicht in kurzen Zeiträumen, etwa bis zum nächsten Geschäftsführer, sondern generationsübergreifend gedacht und gehandelt. Da Familienunternehmen stärker auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind, setzen sie auch mehr darauf, Mitarbeiter langfristig zu binden – und hierfür ist eben Servant Leadership besser als jedes andere Führungsprinzip geeignet.
Aber grundsätzlich sollten alle Unternehmen ihre Führungsprinzipien hinterfragen. Als Denkanstoß könnten dazu die aktuellen Werte des alljährlich erhobenen Engagement Index von Gallup dienen: In Deutschland fühlen sich derzeit 70 Prozent aller Arbeitnehmer emotional nur gering an ihren Arbeitgeber gebunden, 15 Prozent haben sogar bereits innerlich gekündigt.
Folgende Faktoren hat Gallup für die Bindung an ein Unternehmen als besonders wichtig identifiziert: eine sinnvolle, abwechslungsreiche Tätigkeit, freundliche Kollegen und die Führungsqualität der Vorgesetzen. Während sich 97 Prozent der Chefs für eine gute oder sehr gute Führungskraft halten, bestätigten hingegen nur 21 Prozent der Arbeitnehmer, dass ihre Vorgesetzten sie motivieren, herausragende Arbeit zu leisten – ein großer Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die größte Stärke in den Chefetagen scheint zumindest nicht die kritische Selbstreflexion zu sein. Sie gehört hingegen auch zu den zentralen Fähigkeiten eines Servant Leaders.
Als wären all diese Ergebnisse noch nicht ernüchternd genug, hat Gallup auch noch den volkswirtschaftlichen Schaden durch demotivierte Mitarbeiter in Deutschland berechnet: bis zu 105 Milliarden Euro jährlich. Fazit: Arbeitsatmosphäre und Mitarbeiterführung zu verbessern, sorgt auch für einen unmittelbaren wirtschaftlichen Gewinn – das sollte doch auch traditionell denkende Unternehmenslenker ins Grübeln bringen. In eigenen Panel-Studien haben wir die Gallup-Ergebnisse über mehrere Jahre bestätigen können. „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ ist in vielen Organisationen ein stark vernachlässigtes Thema. Durchschnittlich 20 Prozent Produktivitätssteigerung – in Einzelfällen deutlich mehr – sind möglich durch einfache, glaubhaft vorgelebte Führung: sich kümmern, Feedback geben, Kritik ertragen und produktiv umsetzen, auf Menschen zugehen, Interesse an ihrer Entwicklung zeigen etc. Dies alles kostet wenig – außer Kreativität, Disziplin, Mut und Konsequenz – und bringt viel. In der Regel mehr als kostspielige Beraterprogramme, deren Empfehlungen und Maßnahmen schnell und ohne Nachhaltigkeit „verdunsten“.